F. Heinzer u.a. (Hrsg.): Hermann der Lahme

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Titel
Hermann der Lahme. Reichenauer Mönch und Universalgelehrter des 11. Jahrhunderts


Autor(en)
Heinzer, Felix; Zotz, Thomas; Schmit, Hans-Peter
Reihe
Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B 208
Erschienen
Stuttgart 2016: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
345 S.
Preis
€ 34,00
URL
von
Ernst Tremp, Mediaevistisches Institut, Universitaet Freiburg

Der Reichenauer Mönch und Universalgelehrte Hermann der Lahme (1013–1054) kam am 18. Juli 1013 zur Welt. Das genaue Geburtsdatum steht in seiner Weltchronik und ist eines der verschiedenen darin enthaltenen Selbstzeugnisse («Ego-Dokumente»). Solche Angaben sind für das frühe Mittelalter bekanntlich sehr selten. Fast auf den Tag genau tausend Jahre später, vom 6. bis 8. Juni 2013, fand aus Anlass dieses Jubiläums in Weingarten eine interdisziplinäre Tagung statt. Der hier anzuzeigende Band vereinigt die an der Tagung gehaltenen Vorträge und zusätzlich zwei Beiträge. Wie die Herausgeber im Vorwort festhalten, soll eine Bilanz des heutigen Wissensstandes über diesen universalen Gelehrten und sein aussergewöhnlich vielfältiges Werk gezogen und sollen Wege für die künftige Forschung zu Hermann aufgezeigt werden.
Der Band mit seinen sechzehn Beiträgen ist in fünf Teile gegliedert. Teil I ist mit Hermann der Lahme: Leben, Umwelt und Nachwirkung betitelt, er umfasst fünf Aufsätze. Thomas Zotz, Hermann und seine Familie, die Grafen von Altshausen (3–17), sichtet die in Hermanns Weltchronik enthaltenen Nachrichten über seine Familie, darunter das ausserordentliche Zeugnis zum Tod seiner Mutter 1052, sowie die weiteren Quellen und entwirft ein Bild dieser schwäbischen Adelsfamilie. Sie orientierte sich in ihrem Selbstverständnis stark an der Verwandtschaft mit dem heiligen Bischof Ulrich von Augsburg und pflegte enge, aber nicht konfliktfreie Beziehungen zum Kloster Reichenau. Parallelen und verwandtschaftliche Bindungen werden aufgezeigt zu den Zürichgaugrafen und späteren Grafen von Nellenburg, die als ihre Grablege das Kloster Allerheiligen in Schaffhausen stifteten. Dass Hermann nicht in seinem Kloster Reichenau, sondern in der Familiengrablege in Altshausen (Landkreis Ravensburg) bestattet wurde, ist aussergewöhnlich und lässt ein ausgeprägtes adliges Fa¬milienbewusstsein erkennen. – Walter Berschin, Ego Herimannus. Drei Fragen zur Bio¬graphie des Hermannus Contractus (19–24), nimmt an, dass Hermanns schwere Behinderung, seine spastische Lähmung, nicht auf einen Geburtsfehler zurückzuführen ist, sondern auf eine frühe Kinderlähmung. Seine Ausbildung habe Hermann nicht als puer oblatus auf der Reichenau erhalten, sondern vielleicht in Augsburg, und er sei erst später ins Kloster aufgenommen worden. Als Behinderter habe er keine Priesterweihe oder andere Klerikerweihe bekommen, sondern nur eine einfache Mönchsweihe. – Helmut Maurer, Hermanns des Lahmen Kloster in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts (25–42), steckt den äusseren Rahmen für die nachfolgenden Untersuchungen zum historio¬graphischen, literarischen, musikalischen und naturwissenschaftlichen Werk Hermanns ab. Ausgehend vom Klagebrief Abt Berns (1008–1048) über Übergriffe von Hermanns Vater Wolfrat von Altshausen gegenüber der Reichenau, situiert Maurer das Inselkloster im Spannungsfeld zwischen dem Adel im Bodenseeraum, dem Bischof von Konstanz, von dessen Abhängigkeit Bern die Reichenau durch Exemption lösen konnte, dem Papst sowie den Herrschern Heinrich II. und Heinrich III., zu denen Bern ein enges Verhältnis pflegte. – Felix Heinzer, In exteriori homine contractus. Körperdefizienz und Autorschaft – ein Paradigma in der mittelalterlichen Klosterkultur des Bodenseeraums? (43–64), widmet sich dem faszinierenden Thema, wieweit ein Zusammenhang zwischen körperlicher Versehrtheit und dichterisch-schöpferischer Kraft besteht, und untersucht dies geistreich an den Beispielen von Walahfrid Strabo, Notker dem Stammler und Hermann dem Lahmen. – Wolfgang Augustyn, Hermann der Lahme – Nachleben im Bild (65–84), stellt die im 13. Jahrhundert einsetzende, reiche Ikonographie zu Hermann vor. Häufig wird dieser mit dem Astrolab, dem Globus oder/und zwei Krücken als Attributen dargestellt. Er gilt als Meister der Arithmetik, Astronomie, Geographie und Musiktheorie; später wird er, der umstrittene Schöpfer der berühmten marianischen Antiphonen Salve regina und Alma redemptoris mater, auch als grosser Marienverehrer unter den Benediktinern dargestellt. Damit kommt ihm eine doppelte Rolle als geistlicher Dichter und Wissenschaftler zu. Eine wichtige Stellung in der Verehrung Hermanns des Lahmen und in der Verbreitung seines Kultes nimmt in der frühen Neuzeit das Kloster St. Gallen ein, das ihn zu seinen eigenen Mönchen zählte und als St. Galler Heiligen verehrte. In barocken Bibliothekssälen begegnet Hermann mit seinen naturwissenschaftlichen Attributen auch als Exempel für Modernität und Aufklärung. Nach dem Ancien Régime erlebten die künstlerischen Darstellungen Hermanns in Beuron einen Neubeginn, nun in neuer Bildkomposition und im Bekenntnis zur kirchlichen Tradition angesichts des Kulturkampfes. Hermann wird bis in die Gegenwart in zahlreichen Kirchen dargestellt und vor allem in Oberschwaben als Lokalheiliger verehrt (Fest am 24. September, seinem Todestag).
In den Teil II: Hermannus historiographus, führt der grundlegende Aufsatz von HansWerner Goetz, Das Geschichts- und Weltbild der Chronik Hermanns von Reichenau (87–131), ein. Er analysiert zuerst die Art seiner Geschichtsschreibung, die einen hybriden Charakter zwischen Weltchronik, Kirchengeschichte und Annalen aufweist. Dann untersucht Goetz die Kompilationsmethode Hermanns, der die Autoren seiner Vorlagen nennt und nicht kritiklos abschreibt. Weiter kommen die in der Weltchronik seit Christi Geburt verwendete Chronologie und deren Darstellung zur Sprache, wofür Hermann sich auf zwei verschiedene Zeitsysteme, die Inkarnationsjahre und die Regierungsjahre (von Herrschern und von Päpsten), stützt. Der geographische Horizont verengt sich mit fortschreitender Zeit von der Universalgeschichte zur Reichsgeschichte und zur schwäbischen Lokalgeschichte (Karten S. 101). Damit ist auch ein Themenwechsel verbunden zu einem ab 900 von Vorlagen unabhängigeren Teil und ab 1021/1044 zur selbst erlebten Zeitgeschichte. Eine genaue inhaltliche Analyse der Vorlagen und ihrer Verarbeitung steht noch aus. In der Zeitgeschichte interessiert sich Hermann besonders für Bischofslisten und die Äbtelisten der Reichenau und St. Gallens und zeigt eine Vorliebe für Kunst, Naturerscheinungen oder bedeutende Gestalten der Wissenschaft. Die christliche Ausprägung seiner Geschichts¬¬schreibung kommt etwa in Berichten über Häresien oder in der Wahrnehmung anderer Religionen zum Ausdruck. – Heinz Krieg, Schwäbische Geschichte und schwäbische Umwelt im Spiegel von Hermanns Chronik (133–146), arbeitet aus der Weltchronik die regionale Identität Hermanns heraus, sein monastisch-kirchliches sowie familiäres Umfeld und die gentile Zuordnung zu Alemannien und Schwaben. Hermanns Selbstverständnis und seine Zugehörigkeit finden im «Wir»-Bewusstsein ihre Entsprechung.
Im Teil III: Hermannus poeta, befassen sich drei Beiträge mit Hermanns Dichtung: Felix Heinzer, Zur Verbreitung von Hermanns Sequenzen (149–173), geht der Rezeption der Dicht¬werke nach, die in Hermanns Werkverzeichnis von dessen Schüler und Biographen Berthold von Reichenau aufgeführt sind. Seine Sequenzen und Heiligen-Offizien, die mit ihrem dichten biblischen und theologischen Hintergrund, im Vergleich mit den Dichtungen Notkers des Stammlers, ausgesprochene Werke der Gelehrsamkeit sind, wurden im Laufe des Mittelalters nur sporadisch verbreitet, vor allem im Kontext der Überlieferung innerhalb der Hirsauer Reform. Trithemius ordnet in seinem Schriftstellerkatalog von 1494 den Dichter und sein Werk dem Kloster St. Gallen zu. – Eva Rothenberger, Poetologische Weiterführung des Alten im Neuen. Der Marienhymnus Ave maris stella und Hermanns Mariensequenz Ave praeclara maris stella im Vergleich (175–194), stellt in subtiler Interpretation den anonymen Vesperhymnus und Hermanns Mariensequenz nebeneinander und zeigt die strukturelle, semantische und theologische Weiterführung des Alten im Neuen auf. – Bernhard Hollick, corpus – spiritus – deus: Anthropologie, Hamartiologie und Poetik im Opusculum Herimanni (195–219), untersucht das 1044/46 entstandene kleine Lehrgedicht über die (monastischen) Tugenden und Laster, das als polymetrische Dichtung in zwanzig verschiedenen Metren abgefasst ist. Die Rahmenhandlung besteht in einem humorvollen kleinen Drama zwischen Hermes, seiner Muse Melpomene und befreundeten Nonnen. Darin eingebettet sind Fallstudien zur Hamartiologie (Lasterlehre), worin Hermann sein poetisches Selbstverständnis und seine theologische Anthropologie auf virtuose Weise entfaltet, was ebenfalls für den Verfasser dieses gehaltvollen Aufsatzes gilt.
Den musikalischen und naturwissenschaftlichen Werken unseres Reichenauer Universalgelehrten widmen sich fünf Beiträge im Teil IV: Hermannus musicus et artista. Michael Klaper, Musicus peritior non erat – Hermannus Contractus und die Musik seiner Zeit (223–242), ordnet Hermann als Musiker dem neuen Typus zu, der zugleich Dichter, Komponist, Musiktheoretiker und Ausführender ist. Klaper vergleicht sein Autorenprofil mit demjenigen Berns sowie Ekkeharts IV. von St. Gal-len. Tabellen auf 239–242 geben eine Übersicht über das dichterisch-musikalische und musiktheoretische Werk der Drei sowie über ihre Offizium-Kompositionen. – Menso Folkerts, Hermanns Schrift über das Zahlenkampfspiel (Rithmomachie) (243–258), verortet diesen arithmetischen Traktat in dem kurz zuvor entstandenen, komplizierten Zahlenkampfspiel, welches zum Erlernen von Multiplizieren und Addieren diente und bis in die Neuzeit verbreiteter war als das Schachspiel, und bewertet die Schrift als die eigenwilligste Verlautbarung in der Geschichte des Zahlenkampfes. – Martin Hellmann, Abakus und Rechenlehre im Werk Hermanns des Lahmen (259–271), be¬fasst sich mit der ebenfalls hochkomplexen Materie, wie Hermann im römischen Zahlensystem Bruchtabellen erstellen und mit Hilfe des Abakus das Osterdatum errechnen konnte. – David Juste, Hermann der Lahme und das Astrolab im Spiegel der neuesten Forschung (273–284), stellt die drei mit Hermann in Verbindung zu bringenden Traktate De mensura astrolabii, De utilitatibus astrolabii und De horologio viatorum zu diesem wichtigsten, multifunktionalen naturwissenschaftlichen Gerät des Mittelalters vor, das über Arabien und Katalonien nach Nordfrankreich und ins Reich gelangte, bespricht die von Hermann entwickelte Verwendung als tragbare Sonnenuhr und erörtert Fragen im Zusammenhang mit der ungeklärten Verfasserschaft. Ein Anhang listet die 65 bekannten Handschriften auf, welche diese Traktate enthalten (282–284). – Immo Warntjes, Hermann der Lahme und die Zeitrechnung. Bedeutung seiner Computistica und Forschungsperspektiven (285–321), bietet einen kompetenten Überblick über die Hermann vorausgehenden Traktate, über dessen drei Schriften zur Komputistik, zu dem von ihm neu berechneten Mondkalender, zur Vorausberechnung von Mond- und Sonnenfinsternissen und zur Unterscheidung von Computus vulgaris und Computus naturalis.
Der letzte Teil V: Zusammenfassung und Ausblick, besteht einzig aus dem anregenden Aufsatz von Steffen Patzold, Hermann der Lahme als Autor und Mensch. Versuch einer Bilanz (325–337), der aufgrund des neuen Forschungsstandes einen Überblick über das Werk bietet und – dahinter unscharf wahrnehmbar – ein Bild des Lebens dieses gelehrten Mönchs zeichnet. Einige der Werke, an erster Stelle seine Weltchronik, harren noch der kritischen Neuedition. Um Hermanns Stellung in der Gelehrtenwelt des 11. Jahrhunderts besser erfassen zu können, wäre auch eine Biographie wünschenswert. Um mit den letzten Worten von Patzold zu schliessen: das Buch zeigt auch, «was wir alles noch nicht wissen. Der historischen Forschung bietet sich hier ein weites Arbeitsfeld an!» (337). Der gehaltvolle Tagungsband ist mit Farbtafeln ausgestaltet. Er enthält ein Orts- und Personenregister, hingegen fehlt ein Verzeichnis der Tafeln, Abbildungen und Karten, ebenso würde ein Handschriften-Register hilfreich sein.

Zitierweise:
Tremp, Ernst: Rezension zu: Hermann der Lahme. Reichenauer Mönch und Universalgelehrter des 11. Jahrhunderts, hg. von Felix Heinzer/Thomas Zotz unter Mitarbeit von Hans-Peter Schmit (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B: Forschungen, Band 208), Stuttgart 2016. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 115, 2021, S. 425-427. Online: <https://doi.org/10.24894/2673-3641.00100>

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